Es ist übliche Berliner Praxis, dass Minister Behörden-Expertisen nutzen, um politische Projekte zu untermauern. Diese Woche jedoch interpretierte Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) einen Energiebericht durch eine besonders fossile Linse. Es ging um den Bericht “Versorgungssicherheit Strom“ der ihr unterstellten Bundesnetzagentur, der sich alle zwei Jahre kritisch mit der Energiewende befasst: Wenn immer mehr Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, Wind und Solar aber nur je nach Wetterlage liefern, droht Deutschland dann bald ein Blackout? Die Antwort der BNetzA lautete: Nicht, wenn in den kommenden zehn Jahren kräftig neue Kapazitäten gebaut werden: zwischen 22 Gigawatt — wenn die ambitionierten Energiewende-Ziele erreicht werden — und im schlechtesten Fall 36 Gigawatt Leistung. Die Behörde spricht von “steuerbaren Kapazitäten”, also solchen, die der Netzbetreiber schnell abrufen kann, um Engpässe zu überbrücken. Das können Gas- oder Wasserstoffkraftwerke sein. Bis zu einem Drittel der installierten Leistung machen aber auch Speicher und sogenannte Industrieflexibilität aus: das sind Industriebetriebe, die je nach Stromangebot freiwillig ihre Produktion hoch- oder runterfahren. Entsprechende Anreizmodelle hat die Netzagentur längst vorgelegt, im Übrigen auch für Wärmepumpen- und E-Auto-Besitzer, denen Strom-Rabatte winken, wenn sie dem Netzbetreiber ihre Batterien zur Verfügung stellen. Ministerin Katherina Reiche (CDU). Foto: Krisztian Bocsi/Bloomberg Das Pikante: das Bundeswirtschaftsministerium verzichtete auf derartige technische Nuancen und formulierte in einer Information an die Presse, die bereits am Mittwoch um 11:37 Uhr verschickt wurde: “Bis zum Jahr 2035 werden — je nach Entwicklung — neue Gaskraftwerke im Umfang von 22 bis zu 36 Gigawatt benötigt.” So steht es auch weiterhin auf der Webseite des Ministeriums. Das war mindestens eine gewagte Interpretation des 73-seitigen Berichts, der ja von “steuerbaren Kapazitäten” spricht und neben Gaskraftwerken weitere Beispiele nennt. Das Problem: Journalisten hatten den ursprünglichen Bericht zu dieser Uhrzeit noch gar nicht vorliegen, nur die Auslegung des Ministeriums. Die Pressestelle der Bundesnetzagentur, eine selbstständige Behörde im Geschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums mit Sitz in Bonn, hatte die Veröffentlichung nicht in der Hand und konnte bei telefonischen Nachfragen nur zurück nach Berlin verweisen. Dort lud Ministerin Reiche gegen 12:40 Uhr zu einer Pressekonferenz ein — hauptsächlich, um über das Strompreis-Entlastungspaket zu referieren, welches das Kabinett am Vormittag beschlossen hatte. Auf Fragen zum Versorgungssicherheitsbericht antwortete sie zwar, allerdings kannten Pressevertreter zu diesem Zeitpunkt die Empfehlungen der Netzagentur noch nicht. Dies führte zu Überschriften wie: “Plötzlich braucht Deutschland 71 neue Gaskraftwerke — in nur zehn Jahren”. Dass Deutschland viele Gaskraftwerke bauen muss und dafür rasch Ausschreibungen nötig sind, bestreiten wenige, auch nicht Behördenpräsident Klaus Müller, ein früherer Grünen-Politiker und langjähriges Parteimitglied. Ein solches Szenario findet sich etwa auf Seite 40 des Berichts. Die für den Klimaschutz und die Steuerzahler aber nicht unwesentliche Frage ist, wie viele fossile Anlagen tatsächlich noch benötigt und subventioniert werden müssen — und da ist der kleine Formulierungsunterschied zwischen dem Ministerium und der Behörde ein wichtiger. Mehrere Strommarkt-Studien sind schon länger zu dem Ergebnis gekommen, dass der von der Koalition geplante Zubau von 20 Gigawatt an Gaskraftwerks-Kapazitäten überdimensioniert ist. Der Grünen-Energiepolitiker Michael Kellner, der noch bis vor einem halben Jahr selbst Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war, erklärte anlässlich des Reports: Jetzt “den Ausbau der Erneuerbaren zu sabotieren und stattdessen überdimensionierte, teure Gaskraftwerk-Parks zu bauen, wäre eine grobe Fehlinterpretation.” Reiche stand als frühere Eon-Managerin bei ihrem Amtsantritt unter dem voreiligen Verdacht von Klimaschützern, der Gas-Lobby nahezustehen. Mit ihren Reformplänen zum Heizungsgesetz, der Nutzung des Klima- und Transformationsfonds für die Abschaffung der Gasumlage, der Freigabe von Gas-Bohrungen in der Nordsee und ihren Einlassungen zu Erneuerbaren hat sie ihre Kritiker bislang jedoch nicht vom Gegenteil überzeugen können. Die jüngste Kontroverse um die Kraftwerks-Kapazitäten dürfte der Berliner Anti-Reiche-Front nun weiteres Futter gegeben haben. Die Bonner Behörde selbst machte indes deutlich, wer in der Angelegenheit das Sagen hat und erinnerte gleichzeitig daran, dass das Ministerium in der Scharnhorststraße in Berlin nicht länger von Robert Habeck (Grüne) geführt wird: “Die Bundesnetzagentur entscheidet … nicht über die zukünftige Zusammensetzung der steuerbaren Kapazitäten oder Flexibilitäten … (sondern) der Markt und die politischen Rahmenbedingungen.” Lesen Sie auch eine Auswahl unserer Artikel dieser Woche: KI-Antwortmaschine, Rüstung reizt, gefragte Büros, Bitcoin für die Massen und diskrete Milliarden. |